Drohender Null-Zins: Leiden deutsche Sparer an Selbsttäuschung?

Mit der ING DiBa senkt nun auch der Marktführer die Zinsen für Tagesgeld unter 0,5 Prozent. Kann sich ein Sparer noch einbilden, ein solches Konto lohne sich?

 

v24_geld_1Da kann der Tagesgeldzins bereits weit unterhalb von einem Prozent liegen, besser als gar nichts, sagen sich dann viele deutsche Sparer. Nach Jahren des Zinsdesasters haben 0,5 Prozent offenbar eine ähnlich beruhigende Wirkung, wie einst 4,5 Prozent. Glückwunsch!

Der 0,5-Prozent-Sparer kann sich sogar besonders clever fühlen, zahlt doch das Gros der Sparkassen, Genossenschaftsbanken und privaten Institute nur noch zwischen 0,0 und 0,1 Prozent.

Doch nun zerbröselt auch diese Sparer-Illusion. Seit kurzem zahlt der Tagesgeld-Marktführer ING DiBa nicht einmal mehr einen halben Prozentpunkt. Er schreibt seinen langjährigen Kunden pro Jahr lediglich noch 0,35 Prozent gut. Angesichts eines solchen Zinssatzes sollte es selbst den Hartgesottenen unter den Geldparkern schwerfallen, noch vom Tagesgeldkonto als einer attraktiven Geldanlage zu sprechen. Wer 10.000 Euro gespart hat, erhält pro Jahr gerade noch 35 Euro Zinsen. Rentabel?

ING DiBa: Nicht irgendein Tagesgeld-Anbieter

Die einstige Gewerkschaftsbank brachte den Deutschen das Tagesgeldsparen vor mehr als 15 Jahren erst bei. Das Extra-Konto leitete 2001 den Neustart des Instituts ein, es wurde zu einem Verkaufsschlager. Heute hat die Direktbank etwas mehr als acht Millionen Kunden. Mehr als sechs Millionen Tagesgeldkonten werden dort geführt.

Erst im Vorjahr wurde eine lange nicht für möglich gehaltene Rekordmarke geknackt: Die Einlagen auf dem Tagesgeldkonto erhöhten sich von 93 Milliarden Euro auf 103 Milliarden Euro – ein Plus von zehn Milliarden. Im ersten Quartal 2016 kam nach Angaben der Bank eine weitere Milliarde Euro hinzu. Das bedeutet: Die Kunden schafften immer mehr ihrer Ersparnisse auf das Konto, obwohl es dort immer weniger zu verdienen gab.

Niedrigstzinsen: Deutche Sparer sparen unbeirrt

Diese Beobachtung deckt sich mit den Marktzahlen der Deutschen Bundesbank. Mehr als 1,1 Billionen Euro halten die Deutschen mittlerweile in Form täglich fälliger Einlagen. Auch dies ist ein Rekord. An das Geld kommen die Kunden jederzeit heran, sie müssen keine Kündigungsfristen beachten. Diese Flexibilität in Kombination mit der 100.000-Euro-Grenze der gesetzlichen Einlagensicherung verhindert offenbar, dass Kunden sich von den kaum wahrnehmbaren Zinsen irritieren lassen.

Zur Zins-Illusion trägt aber noch ein anderer Punkt bei: In den Tagesgeld-Ranglisten im Internet stehen die Angebote der Banken in der Regel mit jenem Zinssatz, den neue Kunden für das eingezahlte Geld erhalten. Dieser liegt auch heute bei den Spitzeninstituten bei einem Prozent und mehr. Die Autobanken des Volkswagen-Konzerns locken mit 1,1 Prozent. Was schnell übersehen wird: Der Zins gilt nur für vier Monate, danach wird der Sparer zum sogenannten Bestandskunden und erhält lediglich einen Bruchteil des ursprünglichen Prozentsatzes. Diese Degradierung vom Neu- zum Bestandskunden läuft automatisch, der Kunde bemerkt sie nur, wenn er nachrechnet.

Zehnjahresrendite beim Tagesgeld erstmals negativ

Die Kluft zwischen Neu- und Bestandskunden wird bei vielen Banken immer größer. Das zeigt auch ein Vergleich bei der ING DiBa: Für die Masse der Kunden senkte die Bank zum 15. Juni bereits zum dritten Mal seit März 2015 die Zinsen. Allen Neulingen zahlt die Bank dagegen unverändert 1,0 Prozent – an dem Satz hat sie im gleichen Zeitraum nicht ein Mal gerüttelt.

Noch größer ist der Unterschied bei der Audi- und der Volkswagenbank. Hier stehen dem Neukundenangebot von 1,1 Prozent lediglich 0,3 Prozent für Bestandskunden gegenüber. Bei der Consorsbank ist das Missverhältnis mit 1,0 gegenüber 0,2 Prozent am größten unter den großen deutschen Tagesgeldspezialisten. Allerdings ist dort die Garantiezeit mit zwölf Monaten auch am längsten. Erst nach einem Jahr wird der Zinssatz des Kontos gefünftelt.

Neu- und Bestandskunden: DKB zahlt identische Zinsen

Eine Ausnahme im Marketing-Spiel der führenden Direktbanken ist die DKB Bank. Sie hält weiterhin ein, was auch die ING DiBa einst großspurig für sich beanspruchte: Sie macht keinen Unterschied zwischen Neu- und Bestandskunden. Hier kann sich noch jeder Kunde gleich geschätzt fühlen. Mit einem Zins von 0,6 Prozent liegt die Direktbank aus dem Sparkassenlager an der Spitze der für Dauer-Tagesgeldsparer einzig relevanten Rangliste.

Spannend wird nun zu beobachten sein, ob die zuletzt eher träge Masse der Anleger in Bewegung kommt, wenn selbst Spezialisten dauerhaft kaum mehr als 0,0 Prozent auf dem Tagesgeldkonto zahlen. Die relativ große Differenz zwischen dem Zins für Neu- und Bestandskunden könnte manch einen dazu verleiten, tatsächlich den Anbieter zu wechseln. Zumal eine Kontoeröffnung heute bei vielen Banken bequem vom heimischen Schreibtisch oder Sofa aus möglich ist. Statt zur nächsten Postfiliale zu laufen, reicht es, wenn sich Interessenten per Video-Konferenz am heimischen PC ausweisen.

Allerdings ist durch die Niedrigzinspolitik der Notenbanken eine Art Schutzwall gegen Kundenflucht entstanden. In der Finanzbranche galt über viele Jahre hinweg eine Daumenregel: Kunden überlegen sich frühestens bei einem Zinsunterschied von einem halben Prozentpunkt, ob sie den Anbieter wechseln. Vorher war ihnen der Aufwand zu groß.

Locker machen: Die Konkurrenz der ING DiBa entspannt sich

Also musste eine Bank, die Abgänge von Tagesgeldkunden verhindern wollte, schauen, dass sie den Abstand zu den Top-Anbietern in Grenzen hielt. Heute ist es kaum noch möglich, eine Bank zu finden, die dauerhaft einen halben Prozentpunkt mehr bietet. Mit der ING DiBa hat sich ein weiterer Kandidat verabschiedet. Die Konkurrenz kann durchatmen. Die Wechselbereitschaft zu einem anderen Tagesgeldanbieter ist dadurch gesunken, dass nun alle der Null-Linie nahe sind.

Eine andere Kundenreaktion auf die Mini-Zinsen wäre, das Geld vom Tagesgeldkonto abzuziehen und dafür Wertpapiere zu kaufen. Doch bislang steht dem die Sorge vor hohen Verlusten entgegen. Obwohl Untersuchungen zeigen, dass über Zeiträume von zehn und mehr Jahren, in der Vergangenheit selbst die als besonders risikoreich geltenden Aktien kein Verlustgeschäft waren, haben viele Sparer Schwierigkeiten damit, einen Teil der Ersparnisse umzuschichten. Laut der aktuellen Fondsstatistik des BVI haben Privatanleger in den ersten vier Monaten 2,2 Milliarden Euro aus Aktienfonds abgezogen.

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